Christiane Radon war viele Jahre lang die Leiterin der Stadtbibliothek Falkensee. Nun ist sie am 1. Juli 2021 mit 65 Jahren in den wohlverdienten Ruhestand gegangen. Anschließend nahm sie sich noch einmal die Zeit – für ein vielseitiges Gespräch über viel zu kleine Stadtbibliotheken, queere Büchersammlungen, historische Romane und ihren bald sehr fitten Dackel. Die Fragen stellte Carsten Scheibe.
Die Stadtbibliothek Falkensee (www.stadtbibliothek-falkensee.de) ist in den letzten Jahrzehnten gleich mehrmals umgezogen. Die nun scheidende Blibliotheksleiterin Christiane Radon erinnert sich: “Erst gab es einen ganz beengten Ort hinter der Kirche, da sind manchmal die Regale zusammengebrochen. Dann sind wir 86 in eine riesige Villa am Anger umgezogen, da gab es aber Rückübertragungsansprüche. Seit 1993 sind wir am aktuellen Standort zu finden – auf dem Campusplatz zwischen der Europaschule am Gutspark und der Stadthalle.”
In der Stadtbibliothek arbeiten zurzeit fünf festangestellte Mitarbeiter, die 3,8 Planstellen besetzen. Die Stadt Falkensee ist der Träger und bezahlt die Gehälter. Auf einer Publiku*msfläche von 260 Quadratmetern stehen an die 29.000 Medien bereit, die von den Besuchern der Bibliothek ausgeliehen werden können – gern auch als E-Books in digitaler Form. Ein engagierter Förderverein steht bereit, um mit beherzten Aktionen kulturelle Events zu stemmen und Geld für besondere Ausgaben zu sammeln.
Christiane Radon stammt aus der Uckermark. Seit 1980 wohnt sie in Falkensee. Als Bibliothekarin hat sie im Juni 1982 in der Stadtbibliothek der Gartenstadt angefangen – das ist nun auch schon wieder fast 39 Jahre her.
Liebe Christiane Radon, Sie waren doch bestimmt bereits als Kind eine ausgewiesene Leseratte, oder?
Christiane Radon: “Das Gegenteil war der Fall, ich wollte als Kind nie ein Buch lesen. Und zwar sehr zum Ärger meiner Eltern, mein Vater war Pfarrer. Dann gab es in der 2. Klasse aber eine Einführung in die regionale Bibliothek. Da hat mich das Fieber gepackt. Ich weiß noch, dass die Bücher, die in der Bibliothek für Kinder der ersten bis vierten Klasse vorgesehen waren, einen roten Buchrücken hatten. Die für die älteren Kindern aber einen blauen. Ich habe so viel gelesen, dass ich schon in der 3. Klasse die blauen Bücher lesen durfte. Das waren u.a. die utopischen Romane von Jules Verne. Ich habe auch gern die Science Fiction Bücher von Carlos Rasch gelesen. Der Autor lebte ja bei uns gleich um die Ecke in Brieselang. Er ist leider in diesem Januar verstorben.”
Sie sind ja bereits mehrfache Großmutter. Lesen denn die Enkelkinder auch schon begeistert mit?
Christiane Radon: “Sie lassen sich vorlesen, sie sind ja noch klein. Für das Interesse an Büchern muss man etwas tun. Mein Fernseher ist tagsüber kaputt, der geht nur abends. Die Kinder sagen immer, ich soll den endlich mal reparieren lassen. Aber es ist doch viel schöner, in einem ganz toll aufgemachten Märchenbuch zu lesen. Und jedes Mal gibt es nur eine einzelne Geschichte. Und niemand darf vorblättern, um zu sehen, was noch kommt. Das finden die Kinder total aufregend und spannend.”
Lesen die Kinder heute andere Bücher in der Bibliothek als noch vor 30 Jahren?
Christiane Radon: “Da hat sich trotz Internet wenig verändert. Die Kinder lieben noch immer spannende Abenteuerromane. Der Unterschied ist, dass das Angebot heute viel gewaltiger geworden ist. Früher gab es in den DDR-Kinderbüchern auch innen schöne Illustrationen. Das macht heute kaum noch ein Verlag. Das fehlt mir sehr. Es heißt doch, man soll Literatur mit allen Sinnen wahrnehmen.”
Romane gehen immer, schon klar. Aber welche Sachbücher leihen sich die Falkenseer gerne aus?
Christiane Radon: “Falkensee ist eine Gartenstadt. Also gehen vor allem die Gartenratgeber sehr gut. Auch die Bücher zum Thema Hundeerziehung werden sehr oft nachgefragt. Reiseführer sind stets zu den Sommerferien ein Renner. Und in der Corona-Pandemie hat das Homeschooling dazu geführt, dass viele Bücher passend zu den wichtigen MINT-Fächern ausgeliehen wurden. Die Kinder selbst mögen Sachbücher auch sehr gern, dann aber lieber über Wale oder über die Römer.”
Haben Sie versucht, Ihren Bücherbestand an die Falkenseer anzupassen?
Christiane Radon: “Als die Stadthalle mit der großen Sporthalle gebaut wurde und auch noch der TSV Falkensee in die Stadthalle einzog, da haben wir eine eigene Sportbibliothek aufgebaut. Da gab es Fachbücher zur Trainingslehre oder zum Thema ‘Gesunde Ernährung für Sportler’. Das war leider ein Flop, die Bücher haben wir ungelesen wieder entsorgt. Etwas ganz anderes ist unsere queere Bibliothek. Diese Bücher sind nicht der Renner, aber sie sind halt da. Wenn sie nur einmal einem Kind oder einem Jugendlichen oder einem Erwachsenen helfen, dann hat sich das schon gelohnt. Es gibt leider immer wieder Leute, die finden das doof. Die nehmen einzelne Bücher aus der Queer-Bibliothek und verstecken sie an anderer Stelle, damit sie nicht ausgeliehen werden.”
Wo kommen Ihre Bücher eigentlich her?
Christiane Radon: “Die Stadtbibliothek bekommt jedes Jahr einen Etat von 30.000 Euro. Der muss ausgeschrieben werden, am Ende gewinnt eine Buchhandlung. Hier bestellen wir neue Bücher, aber auch Hörspiele, DVDs und Kinderspiele.
Wir haben ja leider keinen Platz. Und wir haben auch keinen Sammelauftrag, sondern sind eine Bestandsbibliothek. Das bedeutet, dass wir uns von alten Büchern trennen müssen, sobald wir neue Bücher bekommen. Bei uns fallen alle Bücher aus den Regalen, die drei Jahre lang nicht mehr ausgeliehen wurden. Und auch der beste Bestseller ist nach fünf Jahren schon kein Publiku*msmagnet mehr. Jeder kann bestimmt nachvollziehen, dass gerade Reiseführer oder Rechtsratgeber inhaltlich sehr schnell veralten. Was aber für die Bürger noch interessant sein könnte, das geben wir für einen Euro ab. Das Geld bekommt der Förderverein.
Viele Freunde der Stadtbibliothek möchten uns gern ihre Bücher schenken. Hier muss ich auf das Platzproblem verweisen: Bitte bringen Sie keine Dachboden- und Kellerfunde in die Bibliothek, auf denen zehn Zentimeter Staub liegt. Wir nehmen aber gern Kinderbücher und Romane, die nicht älter als drei Jahre sind.”
Werden eigentlich noch Tonbandkassetten ausgeliehen?
Christiane Radon: “Die gibt es in der Stadtbibliothek schon lange nicht mehr. Wir setzen auf die Tonies, die sich mit der Toniebox abspielen lassen. Tonies sind Figuren, die auf die Box gestellt werden und die so ihre gespeicherte Geschichte abspielen. Drückt man die Ohren der Box, wird es leiser oder lauter. Da habe ich meinen Spaß dran, das ist eine tolle Sache.”
Vor den Sommerferien wurden ja wieder die Lese-Überraschungspakete ausgegeben. Wie kam es denn ursprünglich einmal dazu?
Christiane Radon: “Ich hatte vor Jahren die Idee, zum Tag der Bibliotheken ein ‘Blind Date mit einem Buch’ zu veranstalten. Wir haben Überraschungspakete gepackt – und es wurde ein Riesenflop, niemand wollte die Pakete haben. Dann haben wir die Idee im Sommer noch einmal aufgegriffen und Überraschungspakete für die Kinder und für ihre Großen Ferien gepackt – und das war der absolute Hype. Auch die Eltern wollten plötzlich ihre Überraschungspakete haben. In einem Jahr haben wir unfassbare 711 Überraschungspakete geschnürt.
Jetzt in der Corona-Pandemie haben wir die Pakete sozusagen ‘auf Bestellung’ und ganz individuell gepackt – unsere Leser durften sich so ein bisschen wünschen, was in ihr Paket kommt.”
Die Stadtbibliothek ist zu klein, sie braucht Platz. Das Gebäude ist nicht barrierefrei zugänglich. Und über eine Erweiterung, eine Sanierung oder einen Neubau streitet die Falkenseer Stadtverordnetenversammlung seit Monaten. Sind Sie froh, dass Sie diese Misere nun hinter sich lassen können?
Christiane Radon: “Für mich persönlich ist das mein größtes Scheitern. Wir haben eine tolle Bibliothek. Unsere Medien sind top in Schuss, da gibt es kein kaputtes Buch im Regal. Unser Team besteht nicht aus ehrenamtlich tätigen Hausfrauen, wir sind alle vom Fach mit der entsprechenden Ausbildung und vielen Weiterbildungen.
Aber die Stadtbibliothek steht von seiner Fläche, den Möglichkeiten und den Medien her noch immer auf dem Stand der Wende, als es in Falkensee nur 22.000 Einwohner gab. Inzwischen gehen wir auf die 50.000 zu. In meinen Augen sind das Land Brandenburg und der Landkreis Havelland nicht besonders Bibliotheks-freundlich aufgestellt. Ich sage: Falkensee braucht verdammt noch mal eine gut ausgestattete Bibliothek, die auch zu dem Ort passt. Barrierefrei in jeder Hinsicht, mit viel Platz, mit Räumen für verschiedene Aktionen und auch sehr gern mit einem Literaturcafé als Treffpunkt, in dem regelmäßig Lesungen und Vorträge angeboten werden.
Ich sage: Wir sind keine freiwillige Ausgabe der Stadt, die nur Geld kostet. Wir bringen auch etwas. Wir erklären Schülern, wie sie eine Facharbeit schreiben. Wir betreiben Leseförderung bei den Kindern. Mit unserem WLAN haben Besucher ihre Bewerbung aufgesetzt und verschickt. Bei uns haben Migranten Deutsch gelernt.”
Was lesen Sie selbst eigentlich am liebsten?
Christiane Radon: “Gern mal einen Frauenroman oder einen guten Krimi. Aber auch Sachbücher vor allem zur Geschichte – etwa die der alten Ägypter oder der Etrusker. Und ich mag Romane mit einem zeitgeschichtlichen Zusammenhang, die etwa während der Weltkriege spielen.”
Im Ruhestand – was haben Sie da vor?
Christiane Radon: “Viele Spaziergänge – unser Dackel wird der fitteste Dackel in ganz Falkensee werden. Ich möchte Marionetten bauen und malen. Berlin hat 500 Museen, die möchte ich besuchen. Meinem Mann ist jetzt schon angst und bange. Das fünfte Enkelkind ist außerdem unterwegs, da wird es uns nicht langweilig werden. (Text/Fotos: CS)
Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 185 (8/2021).
